Dienstag, 21. März 2023

Reisetagebuch Eschwege – Wiesbaden – Bad Schwalbach 16./17. Juni 1949

 
Reisetagebuch Eschwege – Wiesbaden – Bad Schwalbach 16./17. Juni 1949 (Helene Böhme)

Kurpark Bad Schwalbach (Wikimedia Commons)
Eschwege ab 5:00 Uhr

Eschwege West an ab 5:12 Uhr

Schnellzug Frankfurt an 8:57 Uhr (9:00)

ab ~9:30 Bahnsteig 22

nach Wiesbaden an 10:30 Uhr


16. Juni

Fahrt durch Nebel, dann Sonnenschein nach Tunnel durch Rhön. Wiesenlandschaft. Feuchte Auenwälder. Sandboden. Wenig Roggen, Kartoffeln, selten Rüben. In Nähe der Ortschaften Obst- und Gemüsebau. Buchen-Birkenwald. Am Rande Farne, Kiefern, Fichten, eingestreute Pappeln, Erlen. In der Nähe von Hanau fruchtbarer, mehr Roggenfelder.

Kalt, aber sonnig.

[Beginn des ausführlichen Tagebucheintrags:] 19. Juni 20:00 Uhr

Nach der Ankunft in Wiesbaden gegen 10:30 Uhr gleich zum Landeshaus. Pförtnerin nennt mir Zimmer 322 (wenn ich nicht irre) zwei Treppen, rechts eines der letzten Zimmer. Mit mir zugleich ein Herr, dann Schwester Maria Steffens vom Gesundheitsministerium, dann Fräulein Peters, Gewerbelehrerin. Ein schönes Auto bringt uns in angenehmer Fahrt nach Schwalbach. Wir fahren durch mehrere Dörfer, durch Schwalbach hindurch, immer höher, durch herrliche Buchenwälder, bis wir auf der Höhe an einem Park gelangen, der eine große Villa und mehrere kleinere Häuser umschließt. Wir steigen aus, melden uns in einem der Häuser nah beim Eingang an und wandern auf angewiesenem Weg zu dem Tagungshause. Frau Rexroth begegnet uns und ruft entzückt eine meiner Begleitung bei Namen, herzliche Begrüßung. Rechts und links kleine, leere Häuser, in denen anscheinend vor kurzem noch Maler tätig waren. Sie lassen wir in Ruhe und treten in die große Villa ein. Wohlige Wärme, mit Teppich ausgelegt im Zimmer. Glas-Flügeltüren. Wunderbar hohe Rhododendronhecken übrigens im Park. Wir werden aufgefordert, unsere Mäntel und Koffer in der Garderobe abzugeben und eine Tasse Suppe und eine Scheibe Brot zu genießen. Sehr wohl wohltuend beides. An Holztischen mit Linoleumbelag in hellem Raum mit hellem spiegelblanken Parkett essen wir an Tischen zu sechst. Es erscheint auch Fräulein Küppers vom pädagogischen Institut Kassel. Wir begrüßen uns herzlich. Da kommt auch Dr. Brown. Ich stehe auf und begrüße sie. Erfreut ergreift sie mit beiden Händen meine Hand und sagt: "I have asked before all, if Mrs. Boehme woud come." Nun, ich war da. Gleich nach dem Essen ging es an die Arbeit im Arbeitszimmer. In bequemen Polsterstühlen, Sofas, Sesseln saßen wir an und um den Tisch. Ich möglichst nahe bei Mrs. Brown, um auch jedes Wort zu verstehen. Sie hat zu ihrer rechten Frau Lang, ihre Dolmetscherin, ein Flüchtling. Die ersten Anweisungen gab Mr. Fair, ein blonder Amerikaner von großer, etwas eckiger Statur in grauen Anzug, er wirkte nicht so wohlgenährt wie die übrigen Amerikaner. Wir bekamen alle Namensschilder, die wir ansteckten. – Bei den privaten Begrüßungen vor und bei Tisch traf ich auch Herrn Bolz vom Gesamtelternbeirat Wiesbaden. Ein ausgesprochen süddeutsch wirkender Mann von breiten Bau, kräftigem Gesicht, Brille, ruhiges, selbstsicheres Wesen mit Gemütlichkeit und Volkstümlichkeit gepaart. Wirkte auf mich wie der Typ des Volksschullehrers. Beruflich arbeitet er wohl im Aufbauministerium. Dann wurde mir durch ihn Herr Dr. Schell vorgestellt, der mir sagte: "Ich bin ihr Mann! Ich vertrete sie, ich helfe Ihnen. Ich arbeite im Ministerium für Lehrerbildung, Schulpresse und so weiter." Typ eines sportlichen, geistigen jungen Menschen. Diszipliniert, gute Haltung und kurze, deutliche Sprechweise, klare Gedankengänge, überzeugt überlegen Diplomat zwischen Minister und Elternbeirat. Er gab Fall Schlingloff als Härte zu und stellte in Aussicht, dass bei sachlicher Darstellung vor dem Minister Stein er einen Weg finden würde, der befriedigen würde. Bei der Vorstellung erschien auch Mister Batemann, der in launigen sehr anschaulichen Sätzen mehrfach in die Aussprache eingriff und außerordentlich feine und tiefgehende Beobachtungen machte. Sein Deutsch war gut, war manchmal lustig aber sehr herzlich. Ein Wille zu helfen sprach aus allen Worten. Eine überlegene Schau, bei kindlichen Worten eine Größe und Würde der seelischen Haltung, die immer wieder Bewunderung hervorrief. Im Äußeren der typische Amerikaner: groß, fett, Doppelkinn glänzend große Nase leicht gebogen Mund in der Oberlippe in der Mitte hochgezogen, beweglich. Ober- und Unterlippe voll gut gebildet. Von Stirn ausgehender Beginn einer Glatze, aber noch reichlicher Haarwuchs. Braune große Kinderaugen. Dunkles Haar. Brille. Lebhafte Handbewegungen. Trotzdem beherrscht in Haltung. Mrs. Dr. Muriel Brown. Eine kleine, rundliche Dame, etwa 1,50 m groß. Grauweiße Locken, hinten mit Kämmen eingeschlagen. Schwach rosiges, weißhäutiges Gesicht, sehr große, gut ausgebildete, verhältnismäßig schmale Ohren, eng anliegend. Eine große Nase, leicht gebogen, doch gerader als die von Batemann. Im unteren Teil etwas wie abgezogen (schlecht auszudrücken, mir fiel nur die gleiche Form auf bei mehreren Menschen, die in gleicher Weise eine ausgesprochen soziale und organisatorische Ader zu zeigen schienen.) Lippen voll, eigenartig, ich habe sie nicht zeichnen können, fast immer in Bewegung, aber sehr ausdrucksvoll. Leid und Güte, Entgegenkommen und Verschwiegenheit sowie Offenheit zugleich andeutet. Blaue Augen, blaugrau. Sehr klug, immer voll Geist. Brille. Sprache sehr liebenswürdig, herzlich, freundlich ohne Übertreibung, man spürt eine Wärme, die ihre Tiefe aus unbekannten Gründen holt. Man hat den Eindruck: ein Mensch, ein feiner, lebendiger, vielseitiger, selbstloser Mensch. In allem und jedem erinnert sie mich an Tante Hedwig. Gewandt auf jeden, auch noch so kleinen Hinweis eingehend half sie auch den Stilleren zum mutigen Wort. Den Anfang der Aussprache machte uns Dr. Mauermann vom pädagogischen Institut Fulda. Er war wohl der Senior in unserer Versammlung. Unsere Blicke trafen sich häufiger im Einverständnis, ein äußerst liebenswerte Erscheinung. Weißes Haar, rosiges Gesicht, schwarzer Anzug, zarter Körperbau, rüstiger Kreis in bester Verfassung. Jeder gab anfangs seinen Namen und seine Tätigkeit an, die er hier zu vertreten hatte. Ich, als die zunächst Sitzende, begann. Schon saß ich wieder, da bat mich Dr. Brown noch zu sagen, dass meine Mutter schon im Elternbeirat gearbeitet habe. Mir zunächst saß Dr.Paul Aey (Zahnarzt) als Elternbeirat im Landesschulbeirat. Ein älterer Herr, zart, in grauen Anzug, grauweißes Haar, der für sich einen Fragebogen zwecks Entwicklungsberichten angelegt hat. Er wird ihn mir zusenden. Sehr gute, praktische Vorschläge. Dr. Menne Landesbeirat ist mir nicht oft aufgefallen. Herr Emil Karl Berndt, Schulleiter sehr oft sprechend mit ausgezeichneten Vorschlägen, glänzenden Erfolgsberichten, die von einer Freudigkeit und Klarheit des Zieles und der Arbeit sprechen, dass man unbedingt Zutrauen und Hoffnung fassen muss. Gebändigte Kraft. Sehr erfreulich. Dr. Ruppert pädagogisches Institut für Elternerziehung. Häufig beratend. Gut. Van der Meulen (Holland) große, kräftige Erscheinung, schlank, sympathisch, von innerer Güte und Freude durchstrahlt. Maria Steffens, Gesundheitsministerium, eine äußerst liebe, große und rundliche Schwester. Still, mit klugen, sinnenden Augen. Sie stand mir sofort nahe. Rückkehr zur Schlichtheit ihr Grundgedanke. Einfach werden. Stille, unausgesprochene Gemeinschaft mit ihr. Betty Krapp Amerikanerin etwas exotisch wirkend, in näheren Gespräch aber ruhig und bereit zu jeglicher Verständigung, etwas unsicher vielleicht der deutschen Sprache gegenüber. Mrs. Burson Amerikanerin, wesentlich ausgeglichener wirkend, ruhig, zurückhaltend, vornehm. Haare à la Prinzessin Cäcilie. Braunen Kostümmantel überhängend mit breiten Schultern. Wenig sprechend. War hier auch im Amerika-Haus. Otto Wenker, Schulleiter, nicht besonders auffallend. Charlotte Kehne, Jugendleiterin, Kindertagesheim S. Walter, Frau, Gewerkschaft für Berufsschullehrerinnen oft sprechend. Schlief mit in meinem Zimmer. Groß, kräftig rauchend. Pessimist, laute Sprache, derber Mensch bei guten pädagogischen Fähigkeiten, geradezu, irgendwie Draufgängerin und rücksichtslos, für ihre Arbeit sicher äußerst geeignet. Mir aber doch irgendwie unsympathisch. Hat in England von 1939 bis 46 Haushalt geführt und Kinder großgezogen. Erst dann geheiratet. Fräulein H. Beuing Wohlfahrtsschule, sehr sympathischer Mensch, aber keine Vorstellung mehr von ihr.

Ilse Güldenpfennig Mittelgröße, krauses mittelblondes Haar in hohem Knoten aufgesteckt Tiefenpsychologin. Ziegenhagener Kinderheim. Jugendheim, Ausbildung (Anna von Gericke) sehr sympathischer Mensch, ungeheuer leistungsfähig, willensstark, praktisch, warmherzig und doch Abstand wahrend. Geradeaus und treffend. Zurückhaltend und doch offen. Klug. Beim Abschied dem außerordentlich unerzogenen Dolmetscher Hildebrand mit Händedruck zurufend "Das Kernstück ist und bleibt die Erziehung!“ Fort war sie. Wir lachten, er saß dumm und verdattert. Vielleicht begreift er's mal.

Martha Peters Gewerbelehrerin, klein, zierlich, lebhaft (wie Fräulein Oheim.) Klug, wenig Zeit habend,. Nur Donnerstag.

Otto Stückrath Schulleiter. Herausgeber eines Buches über Nassauische Kinderlieder und Gebräuche (erinnert an Vater) hat im Konzentrationslager gesessen deswegen sechs Wochen oder ein Vierteljahr. Irgendwie unglücklich.

Dr. Kurt Resey Dozent Walburg Institut für Lehrerbildung. Vollanstalt sechs Semester Grundschuldidaktik. Ein feiner Kopf, aufgeschlossen. Dr. Erica Kutzleb, Psychologen eben dort. Kinderlähmung, geschient ab 6. der 10. Lebensjahr. Hellgrünes Kleid. Still, aber optimistsich wie ich, wir verstehen uns gut. Singen auch ihr nahe liegend. Fragt danach. Dr. Waltraud Küppers. Institut für Lehrerbildung Kassel. Lebhaft, selbstbewusst, überzeugt, Singtechnik Christel Steinweg, führt die Polonaise an mit Batemann, ein sicherer Mensch in der Erscheinung. Jugendbewegt aussehend. Dr. Ottmar Englert Wohlfahrtsministerium. Großer, breitschultriger Mann. Schwarze Brille. Hat auf Aufforderung manches zu sagen. Ihm liegt besonders Psychologisches ob. Die böse Sache in Netra [?] soll beim Jugendamt in Kassel gemeldet werden, notfalls bei ihm offiziell. Ich verstehe mich gut mit ihm. Doch habe ich den Eindruck, als ob hinter dieser breiten Brust und großen Stirne unendlich viel Trauriges, Grausiges und Not und Elend verborgen sind. Eine kühle Fremde und Entfernung weht mich an, Eine traurige Überlegenheit im Wissen um unmenschlich Menschliches. Eine innere Gemeinschaft ist nicht möglich. Starke Zurückhaltung von seiner Seite aus überall, obgleich er offen ist und auf alles eingeht. Eindruck, als ob er doch  irgendwie fern ist mit den Gedanken.

Dr. Göbel Lehrerbildung, Kultusministerium. Schwarz wirkender Herr. Ernst, gesammelt, stets im gewählten Vortrag sprechend, kommt erst schon 3-4 Stunden vor Schluss der Tagung, bleibt uns fremd. Was er aber sagt, ist sehr gut. Dr. Christopher kam erst Freitag. Sehr angenehmer Mensch.


Fragestellungen:

Warum Elternerziehung in Deutschland.

1. was bedeutet Elternerziehung?

2. Was ist Zweck und Ziel der Elternerziehung

3. Welche Hilfsmittel stehen für die Elternerziehung zur Verfügung?

4. In welcher Weise können diese Hilfsmittel am wirksamsten eingesetzt werden? (Von uns, den Teilnehmern, im Besonderen)


In den Einleitungsworten sagt Mrs. Brown, sie hoffe, dass wir hier Geschichte machen könnten. Uns erschien es großsprecherisch, obgleich sie es sehr bescheiden gesagt hatte. Aber während und nach der Tagung hatten wir alle den Eindruck, als sei etwas Großes geschehen, als sei ein Anfang gemacht von einer glücklichen Wende. Immer wieder mussten wir  Mrs. Brown danken, uns brannten die Herzen und einer entzündete sich an den Worten des anderen. Oft kamen 3 Finger auf einmal hoch. Manches hätte bis in die Nacht besprochen werden können, wenn wir nicht nur das Wesentliche hervorgeholt hätten, des Zieles wegen. Wir arbeiteten sehr nach der Uhr, aßen zwischendurch bei lebhaften Gesprächen In immer wechselnden Tischgesellschaften und gingen häufig durch den Park bei herrlichem Sonnenschein. Mittags mit Schwester Maria ich, nachmittags mit Fräulein Güldenpfennig und Dr. Engelhardt. Morgens mit zwei Herren, die mich, von meinem Morgenlauf abholten und Hunger hatten.

Nach der Einleitung lebhafte Aussprache, geführt und immer wieder durch Vorlesen der Punkte ausgerichtet durch Dr. Brown. Dann Aufteilung in Gruppen zu je zehn Personen, in denen jeder Art Vertreter einmal da war.

Bei uns Dr. Mauermann, der mich gleich zu sich winkte, Fräulein Güldenpfennig, Dr. Englert, van der Meulen, Fräulein Kutzleb, Batemann, den wir baten, die Aussprache zu leiten, mit seinem Hildebranddolmetscher. Eine Dame von der Frauenbewegung u.a. ich glaube Fräulein Peters. Nach einer längeren Freizeit und Essen wurden die Ergebnisse von den drei Protokollführern vorgelesen. Es ergab sich eine wundervolle Tatsache, eine Gruppe hat er auf der anderen aufgebaut. Die 1. Gruppe, Dr. Küppers Bericht, überwältigte durch die Klarheit und Grundsätzlichkeit des Aufbaus und Inhalts. Man hatte das Gefühl, in das Wesen der ganzen Elternerziehung hineingesehen zu haben und sie völlig erschöpft zu haben: Dr. Mauermann (unsere Gruppe) aber brachte doch noch neues, tieferes Eingehen auf Schulangelegenheiten. Nun konnte man sich nicht mehr denken, was noch Neues kommen könnte. Dr. Schell brachte von der 3. Gruppe die Gedankengänge. Es waren fast durchweg praktische Vorschläge, die zur Erreichung der Elternerziehung gut anzuwenden waren. Wir waren sehr glücklich nach Anhörung der Berichte. Um 9:00 Uhr abends hörten wir auf, machten eine kleine Polonaise in den Park und durch ein paar Zimmer, endeten im Musikzimmer, wo wir einige Lieder sangen. Dr. Browns Lieblingslied: "Alle Vögel sind schon da", dann "Sah ein Knab ein Röslein stehn". "Wenn alle Brünnlein fließen". Den Kanon "Froh zu sein bedarf man wenig". Dann spielten wir auf meinen Vorschlag "Zwinkern" und hatten viel Spaß dabei. Eigentlich sollte noch mehr gespielt werden. Da gab es Milch und im Handumdrehen war alles in Gruppen plaudernd. Einige sehr müde Gesichter veranlassten Dr. Küppers das Abendlied zu singen. Im Kreise, die Hände gefasst, sangen wir "Kein schöner Land". Schwester Marie und Fräulein Kutzleb und Frau Walter und andere mehr gingen schlafen. Ich sprach mit Frau Lemke, dann mit Mauermann und Aey. Schließlich mit Stückrat und Wenker. Kurze Nachtruhe dann. Amselruf weckt mich. Fink, Zaunkönig. Ich sehr dankbar. Schließlich Verse auf Haus Schwalbach gemacht. Frau Walter steht 3/4 7 auf, dann Dr. Kutzleb, zuletzt ich. Warm Wasser! Ich flink fertig. Unten längst nicht alle da. Herr Aey + Mauermann waren die ersten mit. Ich kurzen Morgenlauf. 2 Herren eskortieren mich zurück. Trotzdem kein Frühstücksanfang, obwohl nach 8h. Ich am Flügel im Musikzimmer. Niemand hatte abends behauptet spielen zu können. Ich spiele "Aus meines Herzens Grunde sage ich dir Lob und Dank". "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren". "Integer Vitae" [vermutlich: sieh YouTube], Phantasien. Mauermann sagt "der Horaz sogar muss dran glauben" und "ich höre das integer vitae immer wieder gern". Schwester Maria kommt und setzt sich in eine Ecke. Beim endlichen Frühstücksbeginn flüstert sie mir rasch ins Ohr: "Sie haben wenigstens das Morgengebet gespielt, was die anderen wohl vergessen haben". Ich versuche einige Köpfe zu zeichnen, es gelingen mir aber nur Schell und Schwester Maria. Mrs. Brown bringt mich in Verzweiflung. Schließlich gelingt mir eine ungefähre Skizze bei der Besprechung. Herr Aey gibt Kritik "Gesicht zu breit", "Ohr ist wichtig in deutlicher Ausprägung." Ich verbessere bis einigermaßen zufrieden.

Batemann zu zeichnen misslingt vollständig, leider. Ehe die ersten Teilnehmer abreisen, muss ich auf Wunsch von Dr. Brown mein "Gedicht" vorlesen, das Haus Schwalbachs Anteil an der Elternerziehung besagt. Es wird beifällig mit Fußtrampeln aufgenommen. Die Hausdame, der ich es vorher las, bestätigte mir erfreut, dass ich genau den Sinn des Hauses erfasst hätte und bat es sich für das anzuschaffende Gästebuch aus. Mit den Letzten brach ich auf. Im amerikanischen Ambulanzwagen, wo ich glücklich den Platz neben dem Führer erwischte, sausten wir, zu meinem Schrecken oft, durch Schlangenbad nach Wiesbaden.

Mrs. Brown nahm mich mit sich in die Alexanderstraße, die amerikanische Offiziersmesse. 5. Stock Zimmer 402. Wir stellten unsere Koffer ab und fuhren mit einem Taxi in den Kurpark, genossen Luft, Bäume, Wasser und den Anblick des weißen Schwanes, wobei ich von meinen Eltern, besonders Vater, Tante Hedwig erzählte, von dem Leben mit Rösners und den Amerikanern im Anfang. Sie erzählte von ihrer Ausbildung als Englischlehrerin, ihrer Amtstätigkeit, den darauffolgenden Reisen, dann den 3Jahren Studium bis zum Dr. und von ihren Reisen in Deutschland. Gegen 6h aßen wir in der Messe an einem netten Ecktischen am "grünen" Fenster prächtig zu Abend mit chicken und grünem Salat und anderen Herrlichkeiten. Immer wieder bittet sie, ich solle nach Amerika kommen. "Fünf Kinder zu klein noch." "Nur drei Monate?" Sie hebt die drei Finger hoch. "Only three months?" Ich sage: "Mein Leben hat mir bisher alle Aufgaben zur rechten Zeit vor die Füße gelegt. Wir wollen es abwarten."

Mrs. Brown lieb und herzlich höflich auch zu der Bedienerin, wie Tante Hedwig! Sie erzählt mir von ihren Freunden in Deutschland, von ihren Besuchen bei Schulen usw. Sie streicht mir eigenhändig Sandwiches und wickelt sie ein. In ihrem Zimmer packt sie mir einen netten Blechkasten mit Plätzchen ein und schenkt mir Datteln und eine schwarze Überjacke, die ihr nicht wohl passt. Sie bringt mich alle vier Treppen bis zur Haustüre, obgleich sie beim ersten Aufstieg über die vielen Treppen gestöhnt hatte. Sie entschuldigt sich, dass sie mich nicht zur Bahn begleiten kann, sie hat noch ein Treffen, zu dem sie von Miss Burson bestellt worden ist. Seufzend hat sie den Zettel gelesen. Ich gab ihr 3 Cola-Dextropur-Tabletten, die sie mit Dank annahm. 1 Stunde saß ich vor dem Bahnhof, um mit einer nervenschwachen Frau und einem Mann zu sprechen. "Engel", seine Frau geborene Bungeroth aus Saubach! Von Pfarrer Bungeroth!! Er in Sprache und Haltung wie mein Vater. "Es ist eine Gnade, wenn man eine kluge Mutter hat."

Fahrt nach Frankfurt, versucht, mein Gedicht zu übersetzen. Mrs. Brown hatte mich um das Gedicht gebeten. In Frankfurt anstatt zu fragen selbst nach Zügen gesehen. Nehme falschen Zug über Kassel. Muss 2,90 DM nachzahlen später. Sitze vor Wartesaal. Treffe Mädchen kann Essen geben. Fahren gemeinsam. Kläre sie über Wahrsager auf und rede mit ihr über ihre Erlebnisse, klärend und ratend. Nach ihrem Aussteigen in Marburg (Ockershausen ihre Heimat) Gespräch mit Industriellen neben mir. Auch zwei Tage-Tagung hinter sich, aber "Ölkopp" weil "gesumpft" "Ich hätte auch lieber schlafen sollen und das Fenster offen haben sollen wie Sie". Er raucht nicht mehr, nachdem ich nebenbei gesagt hatte, der Rauch bisse mir in die Augen. Aber er isst Schokolade und gib mir ab und erzählt von seiner Frau und seinem einzigen fünfjährigen Kind. Ich erzähle von meinen Fünfen und zeige ihm ihr Bild. Er will es nicht glauben. Ich erzähle von der ersten Besatzungszeit und meiner Art, mit den Amerikanern fertig zu werden. Er hat inzwischen sich etwas deswegen schämend geschlafen, während ich das Gedicht fertig übertragen hatte [...]"



Oh Haus in Waldeseinsamkeit

der Freundschaft und dem Frohsinn einst geweiht,

du hast mit deinem Zauber uns umsponnen.

Wir haben Mut und Kraft in dir gewonnen,

des Lebens arg verworrnen Fäden sanft zu glätten

in Schule, Elternhaus und solch Erziehungsstätten.

Du bist ein Schlüssel zu der Freiheit, Freundschaft Garten,

in dem des Friedens Freude alle Welt erwarten.

Nimm auf in deinen Räumen Ärzte, Lehrer, Dichter

Und aller Stände sehnende Gesichter.

Schulklassen auch, dass sie in klarer Waldnatur

Erkennen ihres Lebensauftrags Spur

Familien, die des Lebens Not zerrissen,

lass du durch Tiefenpsychologen wissen

wie liebevoll sie alle sind verbunden.

Botaniker und Vogelkenner, 

der Wissenschaft geweihte Männer

umgib mit ein, zwei Freundeskreisen,

Dass sie den Durstenden die Quellen weisen,

Die in Natur zur Heilung allen offen.

Ruf zu dir jene [?], die da hoffen,

Familie neu zu gründen und zu bauen,

dass sie durch Pädagogen, Ärzte deutlich schauen,

Was ihre Pflichten, ihre Rechte sind,

Dass sie weltoffen werden und ihr Kind.

Ruf Musiker, schaff Singfreizeiten,

Die Freude, Kraft und Aufschwung dem bereiten,

der sonst im Alltag ist befangen.

Und jeder, der von dir gegangen,

sei neuer Anstoß einer Lebenswelle,

Dass sich die düstre Welt nun wieder froh erhelle,

vertrauensvoll wir uns den anderen geben

Und Menschen wieder unter Menschen leben!


Es soll in das anzuschaffende Gästebuch kommen.

Für Mrs. Brown und ihre Landsleute übertrug ich es Ins Englische auf der Heimreise folgendermaßen:


House Schwalbach

O house so lonely in the wood,

you've gained us in such a strange kind ,

have filled with will and force [strength] our mind,

to sooth, what wild and bad in earth

in school, in home and education-hearth.

You are a key for freedom's, friedship's garden

where us awaite the joys of peace with all it's graces [...]

[Beendigung des zusammenhängenden Tagebucheintrags 20.6.49 2:00 Uhr ]



Reisetagebuch Eschwege – Wiesbaden – Bad Schwalbach 16./17. Juni 1949

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